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Raphaels ‘erste Epoche’ (1900-1920)

Patrick Healy, 1989

Paper delivered at the 1989 Max Raphael conference in Hamburg, at the centenary of Raphael's birth. It is made available here as an introduction to Raphael's autobiography and early writings, both of which can be consulted elsewhere on this website. Footnotes have been updated to include references to the 1993 publication Das Schöpferische Auge in which Raphael's early writings have been collected. An English translation of these articles was published in 2016, see the bibliography.

Im 1989 stellte mir Claude Schaefer freundlicherweise eine Photokopie der handschriftlichen Autobiographie, die Max Raphael nach seinem New Yorker Exil nach 1941 verfaßt hatte, zur Verfügung. Auf die Existenz dieser Autobiographie wurde zuerst von Herbert Read hingewiesen in seiner Einleitung zur amerikanischen Ausgabe von The Demands of Art (1968). Prof. Dr. Schaefer, Norbert Schneider und Tanja Frank haben im Laufe ihrer Arbeiten über Raphael in mehr oder weniger Maße von ihr Gebrauch gemacht, wie später dann auch Hans-Jürgen Heinrichs und andere Raphael-Forscher. Da diese Autobiographie uns eine zusammenhängende Darstellung der intellektuellen und persönlichen Entwicklung Raphaels bis zum Zeitpunkt ihres Entstehens liefert, stellt sie ein erstrangiges Dokument für die rationale Rekonstruktion seiner Entwicklung als Denker dar.

Ich möchte mich im folgenden näher mit dieser Autobiographie befassen, und zwar in Bezug auf die ‘erste Epoche’ (ugf. 1900-1920), wie sie Raphael in seiner präzisen Periodisierung und chronologischen Analyse nennt. Dies wird einen Einblick in die interne Geschichte ermöglichen, ergänzt durch externe Betrachtungen und eine Analyse vom Raphaels frühesten Arbeiten von 1910 bis 1913.

Vier Etappen

An Anfang des Dokuments legt Raphael die Axiome für seine eigene Analyse dar und bestimmt ihre Aufgabe:

Die wissenschaftliche Aufgabe wäre zu finden:

  • I. Das leben des Individuums besteht aus wohlgegliederten Etappen, von denen jede einzelne eine besondere Aufgabe, Wesen, Ideal hat […].
  • II. Jede Etappe hat ihre Entwicklung d.h. Bildung und Auflösung […].

Es sind 4 Etappen erkennbar:

  • A. Die gegebene (und zu erlernende, festzustellende) Welt [...].

Welche er zwischen 1889-1904/5 datiert.

  • B. Die (nach einem bestimmten Prinzip) gesetzte und zu realisierende Welt […].

Datiert von 1905 bis 1918.

  • C. Die als Mannigfaltigkeit zugleich vorhandene und aufgegebene Welt […].

Hiermit meint er, daß das Problem nicht mehr darin besteht ‘das Ergebnis als da-seiend festzustellen, sondern als wie-seiend zu erkennen’.

  • D. Die Einheit dieser Mannigfaltigkeit […] zu setzen […].1

Dies ist nicht als Setzung einer Idee oder eines Plans zu verstehen, ‘sondern als Synthese und System dieser Mannigfaltigkeit’.

Von diesen Etappen ‘könnte man sagen, daß A und C [...] passive, analytische Perioden [des Aufnehmens] sind [und] B und D subjektive, aktive, spontane, synthetische [Perioden]’.2

In einer – vor allem hinsichtlich seiner ererbten Lungenkrankheit – bemerkenswerten Metapher stellt Raphael die Ähnlichkeit dieser Konzeption mit dem Atemvorgang heraus:

[…] Es ist dies gleich einem Rhythmus des Ein- und Ausatmen.

Es fragt sich:

  1. Wie sich ein solcher Ein- oder Ausatmen vollzieht, gliedert, ineinander umschlagt etc.?
  2. Wie lange jeder [Atem-]Zug dauert? (und wieviele Züge wir zur Verfolgung haben?)
  3. Gibt es Analogien nur zwischen den Einatmungen (A und C) resp. Ausatmungen (B und D) oder auch zwischen A und B, B und C etc.3

Bezüglich der vier von ihm unterschieden Etappen deutet Raphael auch jeweils eine Antithese innerhalb jeder der einzelnen Etappen an. Eine systematische Analyse bedarf demnach einer Unterscheidung zwischen folgenden Momenten:

  • A. Die Ich-Situation
  • I. Die Bewußtseinshöhe (und -tiefe)
  • II. Der Umfang [?] der Weltbegehung
  • III. Die Lebensform […]
  • B. Die Arbeit (Die Ich-Aktion)
  • C. Die Beziehungen zu Menschen
  • I. Die Beziehungen zu Frauen (Liebe)
  • II. Die zwischen-menschlichen Beziehungen (Freundschafts-Gesellschaft)
  • III. Die sozial-politische Beziehungen (und Beziehung zur Geschichte)
  • D. Die Beziehungen zu Natur4

1900-1904: Anfang der erste Epoche

Der dominierende Eindruck vermittelt durch der erste von Raphael identifizierte Periode der gegebenen Welt, ist der einer einsamen und ersten Kindheit. Bereits in frühem Alter hatte er das Pathos der Distanz erfahren; die Kategorie des Fremden taucht erstmals auf.

Das Problem der Distanz wurde noch dadurch verstärkt, daß er der deutsch ausgerichteten jüdischen Minderheit in der westpreußischen Grenzstadt Schönlanke angehörte: einem komplexen sozialen Milieu mit seiner Aufspaltung in eine preußische (vorwiegend katholische), eine polnische und eine jüdische Bevölkerung (eine Minderheit von 10%). Die Verdopplung der Orientierung und die Ambiguität jeden Zugehörigkeitsgefühls gleichsam physisch markierend.

Als Kind, als die Welt auf mich eindrang, lebte ich Außerordentlich zurückgezogen […] ich spielte nie und lachte nie: Ich lernte. […]5

Alle Einzelerinnerungen hangen mit Mutter zusammen und ihr Todestag war wohl das Ende der Kindheit (1900 [?]). Allerdings habe ich später noch sehr intensiv mit ihr gelebt: Sonntags Wanderungen zu ihrem Grab (1905/6). Umgekehrt war mir Vater immer fremd und Mutter war für mich nicht ein Glied der Familie sondern eine isolierte Person. Unsere Samstag Spaziergänge Arm in Arm. Sie wollte nie, daß ich studiere.6

Für die Zeit der Vergangenheit ist folgendes zu bemerken:
A. Kindheit (ungeschiedene Einheit) - I. Völlige Isolierung in der Familie, in der Schule und in der Stadt. Ich war immer der Fremde ohne Freund.7

Der Tod seiner Mutter im Jahre 1900 und seine Übersiedlung nach Berlin 1902 machen den Anfang aus, was er als seine ‘erste Epoche’ bezeichnet, welche er zwischen 1900/02 und 1918/20 datiert.

Allgemein gesprochen stellt diese Periode den Beginn seiner Selbstbewusstsein dar, die durch das Anlegen von Tagebücher ab 1905 bezeugt wird – dem Jahr, in welchem er die Komplexität persönlicher Beziehungen entdeckte, sich sozialer Phänomene bewußt wurde und in welchem sich die erste idealisierte Begegnung mit einer Frau, die Anka genannt wird, zutrug.8 Sie stand auch am Anfang seiner Zugang zur Literatur. Er erwähnt Goethe, Shakespeare und Pushkin.

Die Metapher des Atems stellt die übergreifende und bestimmende Formel für seine Biographie dar. Er verwendet auch die Metapher des Chiaroscuro. Die zwei Jahre, die sich an seine Übersiedlung nach Berlin anschließen, werden von ihm als Teil der ‘dunklen Periode’ beschrieben. Er interpretiert die Zeit nach dem Tod seiner Mutter als Vorbereitung auf das zweite Stadium der ersten Epoche. Es war das Stadium der ‘Offenbarungen’, in dem er folgende Ideen entwickelte:

  • a) Die Idee der Schönheit (Vollkommenheit) Aura
  • b) Die Idee der Gesellschaft (Rebellion) Arbeiten
  • c) Die Idee der Natur (in Bewegung)
  • d) Die Idee der Kunst […]9

1905-1908: helle Periode

Das zweite Stadium, von 1905-08, beschreibt er als ‘helle Periode’. Berlin hatte in ihm das Interesse am Theater geweckt; er erwähnt, daß er kaum Museen aufpackte und wenig Beziehung zur Musik hatte. Das Verhältnis zu seinem Vater, so gebt er in seiner Autobiographie an, verschlechterte sich ständig; es gab einen Streit über den Großvater, Auseinandersetzungen wegen seiner Beziehung zur Anka und wegen seiner positiven Einstellung gegenüber dem Poutilov-Streik in St. Petersburg von 1905, worin sich zum ersten mal Raphaels politische Erkenntnis der Lage der Arbeiter widerspiegelte.

Er registrierte das Verhältnis zu seinem Vater schließlich als ‘Reduktion der Beziehungen zu Vater auf das Monatsgeld’.10 Nichtsdestoweniger respektierte er dessen Wünsche und nahm in Jahr 1907 – welches er ansah als ‘Beginn des Aufbaus eines neuen Lebens, Krach mit Onkel Max, Absage an Onkel Nathan’ – das Jura-Studium an der Universität München auf. Die Entdeckung von Kunst, Natur und der südlichen Metropole sollte den ‘Entschluss zum Selbstsein’ darstellen, sowie den Anfang des ‘Suchens nach der (philosophischen) Methode’ und, vor allem, des ’Suchens des Objektes’.

Die Jahre 1907 und 1908 brachten neue Freundschaften. Es war die Zeit des Umherziehens, seiner ersten Begegnung mit der Kunst und seiner anfangende engen Beziehung zur Natur. Zu dieser Zeit nimmt er auch sein Studium der Kunstgeschichte und der Philosophie auf.

Es ist dann die Zeit der Selbstbestimmung, die bis auf 1901 zurückgeht […]. [E]s ist die Zeit der Idealsetzung und der selbständigen [?] mit der Natur, der Kunst, der Wissenschaft, der Gesellschaft einzelner Menschen und mir selbst. [Von den einzelnen Personen haben wir nur die Vornamen:] Erwin: selbstbewußte Bürger. Eduard, der sentimentale, heimliche Dichter. Elly (oder die Sensibilität und zugleich Berechnung). Es ist aber auch die Zeit der Enttäuschungen. Anka bleibt kühl und alle 3 Frauen erweisen sich als unfruchtbar [unproduktiv] Die Arbeit ist kleinbürgerlich Wölfflin ist absolut nichtssagend Es bleiben: das eigene Ich, der Vater, die Kunst und die Wissenschaft.11

Der Spalt zwischen der Realität und seinen Idealen konnte nicht einmal durch Freundschaft oder Arbeit überbrückt werden. Geschürt wurde der Konflikt wahrscheinlich durch ein Unbehagen an seiner platonische Beziehung zu Anka, sowie durch andere Personen, die neue emotionale und psychologische Anforderungen an ihn stellten.

1909-1910: ersten Artikeln

1909 entschloß sich Raphael, München zu verlassen und sich als Student der Philosophie in Berlin einzuschreiben. Im Sommer dieses Jahrs unternahm er eine Reise nach Italien und erwähnt seine ersten Begegnungen mit der Kunst Giottos und Tintorettos, sowie einen Ausflug nach Ravenna. Die abschließenden Begegnungen zählen für Raphael zu den entschiedensten in seiner intellektuellen Entwicklung und Arbeit. 1910 lernt er Max Pechstein kennen. Er faßt das Jahr schlicht zusammen als:

Begegnung mit Pechstein (und der eigenen Generation). Reise nach Holland und Wanderung am Rhein. Erste Begegnung mit französischer Kunst. Entschluss nach Paris zu reisen. Erste Artikel.12 Platonische Beziehung zu Anka (warten am Abend wenn sie von der Arbeit kommt).13

Später im diesem Jahr, in sein publizierten Besprechung der Sonderbund-Ausstellung in Düsseldorf – Düsseldorf stellte seit 1872 (nach Berlin) das zweite Zentrum organisierter Kunsttätigkeit in Preußen dar – wird erstmals Raphaels Theorie des Impressionismus sichtbar und seine Auffassung von Cézanne und Matisse als exemplarische Künstler der Moderne:

Der Impressionismus ist eine die Natur nachschaffende persönliche Haltung dem Kosmos gegenüber; und zwar unter Betonung der beweglichen Elemente von Licht und Luft durch einen tiefen einfühlenden und sensiblen Charakter. Bei dieser Beschränkung des Gegenstandes und des Schaffenden hat der Impressionismus einen Stil schaffen können; jedenfalls hat er durch die Beziehung auf die Landschaft einen allgemeinen Stoffkreis geschaffen, wie ihn alle guten, fruchtbaren Epochen der Kunstgeschichte gehabt haben.14

Es war möglich, von einer äußeren und einer inneren Impression zu sprechen:

Die Impression kann eine doppelte sein. Eine Empfindung des Momentanen, in dem nur das Leben des Augenblicks liegt. Man wird dann die Art seiner Persönlichkeit beweisen durch die Zahl der Momente, die man im Augenblick wahrnimmt und ausdrückt. Ob man nur die Luft, oder nur das Licht, oder ob man zugleich den leisen Wind, den spezifischen Geruch und feine Bewegungen etc. in malerischen Ausdruck umsetzen kann. Dann eine Empfindung des Momentanen, das die Variation des Allgemeinen ist, eine augenblickliche Äußerung, aber doch ganz Seele der Landschaft. Man könnte von einer Impression des Innern reden. Die Persönlichkeit wird sich diesmal in dem Grade der Einfühlung und Verlebendigung dieses unsichtbaren Herzens der Landschaft in jeder ihrer momentanen Veränderungen offenbaren. Im ersten Falle ist der Impressionismus mehr eine internationale, im zweiten mehr eine nationale Ausdrucksweise.15

Aber die Ausstellung zeigte ein grundsätzliches Problem für die deutsche Rezeption des Impressionismus auf. Raphael bemerkte daß:

[I]m allgemeinen die deutsche Landschaft zu hart in den Lufttönen ist, zu unbeweglich und in den Bewegungen zu unwahrnehmbar und verdeckt.16

Mit Ausnahme Liebermanns vermochte keiner der deutschen Künstler in der Ausstellung ein solche Einschränkung zu überwinden. Von den Franzosen werden sowohl Vuillard als auch Signac kommentiert. Entscheidend jedoch an der neuen Malerei ist daß sie bewußt ‘dekorativ-flächenhart’ vorgeht und daß ‘die Natur jeden Wert verliert und daß die in Farben schaffende Phantasie des Künstlers eine unbeschränkte zügellose Freiheit gewinnt’.

In der Annahme, daß es die Kunst Cézannes war, die die künstlerische Probleme für die neue Generation von Künstlern definierte, folgt Raphael ziemlich genau der von Dr. Niemeyer im Vorwort des Katalogs entworfenen Argumentation. Gegenstand war nicht mehr die natürliche Form oder die naturalistische Darstellung, sondern ein neues Bestreben nach der subjektiven dekorativen Form. Matisse und Kandinky führten diese Suche nach subjektiver Freiheit und die Befreiung von der mimetischen, naturalistischen Repräsentation vor:

Hier verschwindet das Vorbild ganz, der Künstler empfängt seine Gesetze nicht mehr vom Objekt, der Spiegel in der Phantasie des Künstlers ist alles.17

Raphael verbleibt in diesem Artikel innerhalb des vorgegebenen Rahmens einer Ausstellungskritik. Die wichtigen von ihm angeführten Punkte sind: die Frage des Verhältnisses zur Landschaft, das dekorative Phänomen der modernen Malerei und die Verteidigung der neunen Subjektivität des Malers. Noch nicht erkennbar wird Raphaels Bewegung hin zu jenen Standpunkt, den er ein Jahr später einnehmen wird – mit seiner strikten Ablehnung des Impressionismus und völligen Parteinahme für die neue Ästhetik des Expressionismus. Die Frage welchen Einfluß Pechstein bei diesem Wandel auf ihn ausübte bedarf hierbei einer näheren Untersuchung.

Im in diesem Jahr publizierten Artikel ‘Die Weltstadt Berlin’ wenden sich seine Überlegungen zu der Frage des Gesellschaftlichen und der von ihm angenommen Stadt, in die er zurückgekehrt war. Einen Satz aus Schefflers gerade erschienenem Buch über Berlin zitierend, bestimmt er das Dilemma der modernen Stadt und ihrer eingepferchten Geschichte: ‘Sie ist verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein’.18 Für Raphael ist sie der Feind aller Harmonie. Sein eigenes Leben ist ein ewiges Hin und Her; er ist der moderne Ahasver, irrend und ruhelos.

Obwohl er Schefflers Buch zustimmend zitiert, wendet er ein, daß eine andere Methode erforderlich sei, um ein Buch über Berlin zu schreiben:

Dazu wäre eine Methode nötig, die viel mehr bei der Anschauung bliebe, eine Methode, die mehr künstlerisch als wissenschaftlich ist. Das Buch über Berlin müßte in kurzen analytischen Impressionismen geschrieben sein. […] [D]as Buch über Berlin muß von allem Journalismus frei sein.19

Weder Endells noch Schefflers Buch konnten sich mit Ruderers Arbeit über München oder Bahrs Studie über Wien messen. Die Beschreibung der Unruhe im der modernen Stadt, dem weltlichen Ort ständigen Werdens, und die Forderung eines Montageverfahrens, um ein solches Phänomen einfangen zu können, zeigen wie nah Raphael dem Denken Georg Simmels stand.

Georg Simmel

In Willy Moogs Buch Die deutsch Philosophie des 20. Jahrhunderts von 1922 wurde dieser Aspekt des Simmelschen Denkens als für seine relativistische Kulturgeschichte zentral angesehen: ‘[…] ja man kann ihn einen Vertreter modernen großstädtischen Geistes nennen’. Simmel hatte sein eigenes Ziel deutlich ausgedrückt: ‘die Produkte des spezifisch modernen Leben nach ihrer Innerlichkeit’.

Eine der primären Forderungen der Lebensphilosophie hatte darin bestanden, nach der Beziehung zwischen Objekten und Individuen zu suchen, das Leben in seinen elastischen, flüchtigen und vergängliche Formen, in seinen molekularen Prozessen zu verstehen und soziale Formen als Produkte menschlicher kreativer Handlung zu begreifen. Der Antagonismus, der Dualismus und die Ambiguität in der Beziehung zwischen Gesellschaft und Individuum konnte nie zu einer synthetischen Auflösung finden.

Eine zeitgenössische Analyse der Philosophie Simmels, die in Form einer Serie von Artikeln in der Revue de Métaphysique et de Morale veröffentlicht wurde (erschienen in Buchform als Le Relativisme philosophique chez Georg Simmel), verdient hier eine Untersuchung hinsichtlich ihrer Behauptung, Simmel habe dem philosophischen Relativismus seine maximale systematische Ausdehnung und logische Effizienz verliehen.20 Die Philosophie war keine rein ‘negative’ Operation, befaßt mit der Zerstörung philosophischer Kategorien. Durch seine frühe Kritiek der moralischen Kategorien und seine spätere Analyse der Vorstellung der Werte, für die er das Prinzip der ‘Wechselwirkung’ einführt, kehrt Simmel zu Vorlesungen über Kant zurück. Das wesentliche Merkmal des Simmelschen Projekts war:

l’effort pour concilier l’empirisme génétique de la psychologie et de l’histoire avec l’apriorisme et le formalisme de la théorie de la connaissance.21

Obwohl Simmel oft als ‘une sorte de Bergson allemand’ angesehen wurde, wird vermerkt daß:

quelles que soient par ailleurs les affinités du relativisme simmelien avec le bergsonism, il s’en sépare radicalement au point précis où le bergsonisme se couronne par une métaphysique de l’intuition.22

Vladimir Jankelevichs Aufsatz in seiner Einleitung zu La tragédie de la culture von 1988 folgend, können wir ergänzen, daß die Rationalisierung des Kontingenten für Simmel eine der Hauptleistungen der Kantschen Kritik darstellte und daß der Kantschen Subjektivismus eine Verinnerlichung des Problems der Relativität zur Folge hatte.

Es ist eine der Ironien in Raphaels Leben, daß ihn seine Rückkehr nach Berlin – mit dem Ziel, Philosophie zu studieren – wieder zur Kunst führte. Simmel hatte gegen jeden positivistischen Anspruch, daß begriffliche Erkenntnis die einzig mögliche Form der Erkenntnis sei gekämpft. Für Simmel gab es keine Möglichkeiten einer abstrakten allgemeinen Geschichte contra Ranke. Mit der unmittelbaren schöpferischen Anschauung des Künstlers wird uns ein Horizont eröffnet der weiter ist als derjenige, der von Metaphysik und Erkenntnistheorie eröffnet werden. Wie Simmel in einem seiner letzten Aufsätze, der von Bergson handelt, bemerkt, hatte der Begriff des Lebens die älteren Vorstellungen von Substanz, Gott und Natur ersetzt.23

Für eine Analyse der frühen philosophischen Position Raphaels ist es wichtig den Punkt zu verstehen an dem die Simmelsche Problematik zugunsten der Theorien Bergsons über Bord geworfen wird.

1911: annus mirabilis

Wenn man von einem annus mirabilis in Raphaels Leben sprechen möchte, dann ist es 1911 - gleichzeitig der Beginn des vierten Abschnitts der ersten Epoche, den er als ‘die Auseinandersetzung mit dem Objekt’ charakterisiert. Er publizierte im diesem Jahr 6 Aufsätze, schrieb die Einleitung für den Katalog der Neuen Sezession, traf Picasso und Matisse und begann den ersten Entwurf für Von Monet zu Picasso.

In dem Aufsatz ‘Weiß und Schwarz’ reagiert Raphael auf die Ausstellung von Zeichnungen und Graphiken in der jährlichen Berliner Sezession und äußert sich über den Wert der Ausstellung von Zeichnungen für das Verständnis der Entwicklung eines Künstlers. Trots der eindrucksvollen Präsentation von Liebermanns Studien der Judengasse wurde offensichtlich, daß die Künstler der Sezession wenig für die Zukunft der Kunst zu bieten hatten. Hodlers Werk wies die erkennbare Dekadenz Klimts auf. Es war ebenso deutlich, daß Künstler wie Pechstein in der Neuen Sezession weit bessere Arbeiten hervorbrachten:

All diese neuen Bilder sprechen unmittelbar. Und schüttelt man den Kopf: Das also ist der revolutionäre Impressionismus, über den die älteren Generation sich schlug? Wir genießen ihn schon historisch, mit der langen Frage auf dem Lippen: Und wir?24

Goya, Delacroix und Daumier werden ausdrücklich angeführt, ebenso Corot:

[...] Goya war Zeuge mit seinen leicht in Flecken hingeworfenen Zeichnungen. Delacroix war Vater mit seinem scharfen Auge für farbige Wirklichkeit [...]. Daumier mit seinen zwei Welten bergenden Karikaturen war Pate (doch ist die Größe seiner Anschauung, die Monumentalität seines Pathos nur selten erhalten) und als Widerspiel Corots inniges Gefühl für die Landschaft [...]. Dann kommen die Manet, Degas, Renoir, die Klassiker von heute [...].25

Schließlich erwähnt er bei den Lithographien Pierre Bonnard und Maurice Denis. Die frühe Würdigung von Daumier und Corot ist im Blick auf seine späteren Arbeiten über diese Künstler bemerkenswert.

Peter Paret der die erste umfassende Arbeit über die Berliner Sezession geschrieben hat, betrachtet die Geschichte der Berliner Sezession als die Geschichte der Begegnung Deutschlands mit der Moderne.26 Die deutsche Variante des Impressionismus hatte nie den Grad an Originalität erreicht, der nötig gewesen wäre, um einen bleibenden Eindruck für die internationale Rezeption zu hinterlassen. Anders als die Münchner und die Wiener Sezession hatte die Berliner Sezession keine offizielle Unterstützung erhalten - jedenfalls nicht während der ersten zwölf Jahre ihres Bestehens. Die Eröffnungsaustellung der Berliner Sezession hatte im Sommer 1898 die erste große Auseinandersetzung über den Impressionismus in Deutschland hervorgerufen. Unter der strengen staatlichen Kunstförderung in wilhelminischen Preußen stellte ein solche Ausstellung - mit ihrer Aufhebung einer realistischen Abbildung der Welt, der Betonung ihrer Instabilität und Ambiguität und mit ihrem internationalen Charakter - eine fundamentale Bedrohung für die preußische Kunstpolitik dar. Anders als Wien sah sich die Berliner Sezession mit feindseligen offiziellen Mächten konfrontiert. Die Stellung der Cassirer-Gallerie war auch insofern ungewöhnlich, als sich selbst 1910 noch kein Händler in Wien auf moderne französische Kunst spezialisierte.

Raphaels weitere Verwicklung in die Berliner Kunstpolitik in diesem Jahr wird bezeugt durch sein Vorwort zum Katalog der 3. Ausstellung der Neuen Sezession, Februar bis April 1911, das er - wie alle seine Artikel bis zum Ende des folgenden Jahres - unter seinem Pseudonym Schönlanke veröffentlichte. Es ist wahrscheinlich, daß ihm seine Verbindung mit Pechstein diesen Auftrag einbrachte. (Pechstein hatte die Gruppe verlassen und war im selben Jahr aus 'Der Brücke' ausgeschlossen worden.)

In seinem Artikel 'Die Neue Sezession' verdeutlicht Raphael seinen Standpunkt bezüglich der aktuellen Situation in Berlin und seine Parteinahme für die fortgeschrittensten Tendenzen künstlerischer Aktivität. Statt den Konflikt zwischen der Neuen und der Alten Sezession zu betonen, möchte Raphael an diesem Punkt die Aufmerksamkeit auf die positive Beziehung lenken. Er bemerkt in der malerische Synthese eine neue Form der intellektuellen Aktivität - der Passivität des Impressionismus entgegengesetzt, in welchem, um Baudelaire zu zitieren, 'La sensibilité de chacun c’est son génie' 27 - des Primitivismus und eines neuen Subjektivismus.

Raphael sollte seine Ansichten in einem hochgradig polemischen Text gegen 'Hern Lovis Corinth' noch weiter entwickeln in dem Aufsatz 'Der Expressionismus', der in der 1. Septemberheft Zeitschrift Nord und Süd erschien. Corinth hatte die jüngere Generation von Künstler als eine Horde von Nachahmern Cézannes, van Goghs und Gauguins beschrieben. Unterschwellig illustrierte Corinth mit seinem Phrasen die typische Ignoranz, die sich gegen das Neue stellte. Das neue Kunstwollen hatte Raphael zufolge ein anderes Ideal:

Das künstlerische Wollen sucht eine neue Aufgabe [...]: die naturalisierte Individuation auf persönlicher Grundlage zu stabilisieren, den Reiz notwendig zu machen durch Abstraktion vom Zufälligen. [...] Das neue Ideal heißt: das Bild. Man wollte wieder ein von allen fremden, äußeren Beziehungen freies in sich selbstständiges Gebilde schaffen. Nicht mehr die Natur war das hindernde Regulativ, das dem Künstler die Gesetze des Schaffens diktierte, sondern das Bild. [...] Die Differenz zwischen jedem Expressionismus und jedem Naturalismus besteht in diesem Gestaltungswillen.28

Adolf von Hildebrands Suche nach dem ‘Ding an sich’29 stellte eine klassizistische ästhetische Reaktion dar. Für die neuen Künstler gab es kein Absolutum unterhalb des kontingenten Flusses der Erfahrung.

Für den modernen Künstler aber gilt es nicht mehr das Absolute hinter dem Relativen zu suchen, sondern das Relative zur Klarheit und Notwendigkeit zu gestalten.30

In einer fast sloganhaften Formel verkündet Raphael die Regel der neuen Ästhetik: ‘Nicht Schema sondern Gestaltung’.31 Der Impressionismus war eine ‘recherche pédantesque des sensations rare’ gewesen. Imitation war nicht das konstitutive Prinzip der visuellen Kunst. Wie die byzantinische Kunst konnte man den Primitivismus als Abstraktion betrachten. Abschließend versprach er die Unterschiede in seine Buch, für das er einen Verleger zu finden hoffte, ausführlicher darzulegen.

In seiner Rezension von Curt Herrmanns Der Kampf um den Stil (Verlag Erich Reiss, Berlin, 1911) sagt er klar:

Es geht nicht an, den Impressionismus als die letzte Phase, als das non plus ultra hinzustellen, wie man es heute in gewissen Kreisen liebt. Der heilige Geist ist ewige Bewegung, und auch die Jungen sind auf dem Wege zur Kunst.32

Raphael begrüßt die Befangenheit dieses Neo-Impressionisten, der bezüglich der Bewegungsrichtung der Kunst undogmatisch bleibt.

‘Malerei und Persönlichkeit’

Mehr als die Hälfte der Artikel von 1911 befassen sich mit Künstler, die mit der Sezession oder Neuen Sezession in Verbindung standen. In gewisser Hinsicht können wir die Einflüsse auf Raphael als ‘A Tale of Two Cities’ charakterisieren; Berlin und Paris. Es ist sein Kontakt mit Paris, der ihm dabei hilft, seine erste bedeutende theoretische Position voranzutreiben; es sind vor allem seine Begegnungen mit Bergson und Matisse.

Es ist inzwischen mit Sicherheit belegt, daß Raphael mit einem Empfehlungsschreiben von Simmels an Rodin nach Paris reiste. Es könnte auch sehr wohl Simmel gewesen sein, der ihm dazu ermutigte, der Universität fernzubleiben. Kann man annehmen, daß er der Gruppenausstellung besuchte, welche die Berliner Cassirer-Gallerie zwischen Januar und Februar dieses Jahres abgehalten hatte, und später Bilder von Picasso bei Kahnweiler in Paris sah, dann war er doch zweifelsfrei zum Frühlingsanfang in Paris. Er besuchte Vorlesungen bei Henri Bergson und Émile Mâle. Bergson war in diesem Jahr vornehmlich mit einer Studie über William James befaßt.

Der Einfluß Bergsons kann an zwei während dieses Jahrs geschriebenen Artikeln abgelesen werden: ‘Bergsons Schriften’, eine Besprechung der Données immèdiates de la conscience, und ’Malerei und Persönlichkeit’, den er in der eher radikalen Zeitschrift Die Aktion veröffentlichte.33 Dieser letzte Artikel ist sehr wichtig als ein Hinweis auf Raphaels Einstellung gegenüber der von Mach vertretenen Spielart des Positivismus und auf sein Verhältnis zu den theoretischen Arbeiten K. Fiedlers. Ich werde zunächst Raphaels Argumentation darlegen und dann auf die Diskussion des Verhältnisses zu Bergson zurückkommen.

Raphael verwarf die Machsche Idee einer Denkökonomie, die seiner Meinung nach zu einer vollständigen Aufhebung individueller Unterschiede führte. Der Machsche Sensationalismus, der eine radikalisierte Variante der Doktrin des esse est percipi darstellte, konnte nur auf einen bedeutungslosen Solipsimus hinauslaufen. Raphael scheidet kategorisch jede Erklärung aus, die von der Sphäre der Objekt-Welt ausgeht und verwirft jene Art von reduzierter materialistischer Interpretation, wie sie sich in der Philosophie Taines findet, in der der Künstler zu einer bloßen Chiffre des Zeitgeistes verkommt. Anderseits ist der neu-kantianische Ansatz Fiedlers - mit seiner Betonung der Subjekt-Seite -er zu problematisch, um für Raphael annehmbar zu sein. Dennoch schätzte er den radikalen Bruch mit naturalistischen Modellen, den Fiedlers epistemologische Position erlaubte; ebenso die Umkehrung der Vorstellung des Verhältnisses von Kunst zu Sichtbarkeit in Berufung auf die konstitutiven Leistungen des Verstandes - eine Theorie, die Riegls Arbeiten nachhaltig beeinflussen sollte. Raphael teilt jedoch Simmels Ansicht von der über-intellektualistischen und statischen Anlage der kantischen Problematik und ihrer Varianten.

Die Aporie der Kunst kann, wenn überhaupt, dann nur von der Seite des Schaffenden her aufgelöst werden. Aber daran ergibt sich ein Paradoxon. Das Sein des Schaffenden ist geheimnisvoll und verschwiegen:

Das Einmalige, Persönliche ist sein Eigentum, ist sein Werk, ist Geist, Schöpfung, ist neu und nie gewesen.34

Die Tatsache, daß der Künstler etwas Neues schafft, ist eine der Schlüsselvorstellungen in der Ästhetik der Lebensphilosophie bei ihrem Versuch, die Dualismen zu überwinden.

In der Mysterium seines Schaffensaktes entsteht die Kunst, seine schöpferische Tätigkeit überbrückt die Kluft zwischen Natur und Werk, zwischen Chaos und Gestalten. Die Natur, der Zeitgeist gebiert das Kunstwerk nicht und das Bild ist keine Parthogenesis.35

Die Philosophie Machs - welche die solipsistische Konsequenz mit Hilfe eines Analogieschlusses, der verifizierbare Mitteilbarkeit gewährleisten sollte, zu verhindern suchte - schlug vor, daß die Wissenschaft sich darauf beschränken sollte, eine möglichst vollständige Beschreibung des Phänomens vom Standpunkt solcher Empfindungen her zu geben. (Dies war wichtig für die frühen ästhetischen Theorien von Robert Musil und Carl Einstein.) Für Mach ist das Ich eine Fiktion, ein Bündel von Empfindungen, ein nützliches Ordnungsschema, für das keine zusammenhängende Theorie konstruiert werden kann, da es nichts gibt außer dem Werden, dem Geflecht von Empfindungen und Empfindungen. Raphael stellt die rhetorische Frage, welche Philosophie dem Impressionismus adäquater sein könnte als diese und wie der künstlerische Schaffensakt zu erkläre sei, wenn das Ich nur eine denkökonomische Einheit ist?

Er zitiert van Gogh, bei dem er hinter der Mannigfaltigkeit seiner Kreativität eine Kontinuität der Persönlichkeit erkennt:

Wäre das Ich nur ein Konglomerat von Elementen, so müßten alle Menschen gleich sein. Die Verschiedenheit aller Menschen, vor allem ihrer höchsten Typen: der Künstler ist der beste Beweis, daß die Persönlichkeit einen gegebenen Kern hat, der sich an den gegebenen Einflüssen als an seinen Widerständen gestaltet.36

Andere Versuche, das Kunstwerk im Blick auf Materialen und Techniken zu erklären, waren ebenso unzulänglich. Die beste Vorgehensweise bestand darin, den Künstler selbst über sein Material sprechen zu lassen. Von Matisse hatte er jedoch erfahren, daß dieser einen Unterschied zu machen wußte zwischen dem Gefühl, das er im Leben hatte, und den Mitteln und Wegen, mit denen er dieses Gefühl malerisch umsetzte.

Es stellt sich die Frage, ob es einen Weg geben kann, das Verhältnis von malerischer Empfindung und Persönlichkeit zu verstehen - den ‘sensiblen’ Übergang zwischen zwei subjektiven Räumen, wie es Albert Gleizes und Jean Metzinger später ausdrücken werden. Raphael verneint dies grundsätzlich. Die Sprache ist hier ein ‘Überfall auf das Unsagbare’. Darüberhinaus liegt die malerische Empfindung außerhalb von literarischer oder begrifflicher Rede; allein unmittelbare Erfahrung könnte das Verständnis liefern.

Wenn also im Prinzip die persönlichen malerischen Empfindungen nicht erfasst werden können, so erscheint es doch möglich, sich ihnen auf einem anderen Wege anzunähern. Nach Raphael besteht der einzige Weg, dies zu bewerkstelligen, in einem Prozeß des ‘Nachschaffens’. Er deutet zwei Wege an:

Der eine besteht für mich in dem Nachschaffen des künstlerischen Schaffensprozesses. Es gilt das unmittelbare instinktive Erlebnis auf diesem Wege ins Bewußtsein zu ziehen. Wenn ich Schritt für Schritt das Künstlerische Schaffen nachschaffe, so sollte man glauben, daß mir kein Zug des Persönlichen und der eigenartigen malerischen Sensation entginge.37

Ein solcher Ansatz würde die Möglichkeit einer Psychologie des künstlerischen Schaffens eröffnen. Aber selbst sie stellte eine stark abgeschwächte Form des Verstehens dar:

[...] ich täusche mich nicht über den Grenzwert such dieser Methode. “[...] Ce sont les émotions qui font l’art et sur les émotions on ne peut dire rien,” sagte mir Matisse. Und dann: jede begriffliche Formulierung wird in eine Fülle von Momenten zerreißen [...].38

Aber selbst wenn die Möglichkeit des Nachschaffens zweifelhaft war, existierte doch noch die zweite Möglichkeit:

[...] die gestalteten Formen auf ihre mathematische Grundform zurückzuführen - sie gleichsam gefrieren zu lassen. Von der anorganischen, geometrischen Form bis zur gestalteten, lebendigen [...].39

Am Ende seiner Analyse zitiert Raphael jedoch mit Zustimmung einen Roman, auf den er sich bereits in einem früheren Artikel bezogen hatte: Goethes Erwin von Steinbach. Die Idee der Empathie scheint die umfassendste Möglichkeit des Verstehens zu bieten.

Es handelt sich dabei um einen entscheidenden Sichtpunkt einer theoretischen Ästhetik, die sozusagen auf einer ‘weichen’ Ontologie beruht. Bergson hatte in seiner frühen Arbeit _ Essai sur les données immédiates de la conscience_ zwischen intellektueller und persönlicher Zeit unterschieden. Das ‘moi profond’ existiert für Bergson in einer heterogenen Zeit, und der mit diesem in enger Verbindung stehende Künstler hat eine direkte Wahrnehmung seines Seins in der Dauer. Der künstlerische Akt ist für Bergson ein freier Akt, der die gesamte Persönlichkeit ausdrückt. Die vom Künstler und vom Philosophen verfolgten Ziele sind letztlich identisch - ein Gedanke, der in Simmels Hauptprobleme der Philosophie wieder anklingt. Der philosophische Text oder der künstlerische Akt erfordern beim Leser oder Betrachter eine neue Form der schöpferischen Einsicht. Im Geist des Betrachters findet sich etwas, das einer konkreten Geburt gleicht: die Schöpfung einer dynamischen Form; aus dem dauernden Fluß des Bewußtseins treten Bilder hervor. Die entscheidende Entdeckung des frühen Bergson besteht in einer Konzeption der Simultaneität und einer cinematographischen Konglomeration von Bildern. Gilles Deleuze bemerkt, daß:

Bergson avait parfaitement découvert l’existence des coupes mobiles ou des image mouvement.

Raphael macht seine Verpflichtung Bergson gegenüber in einer fast programmatisch zu nennenden Aussage in einem Anfang des folgenden Jahres in Paris geschriebenen Artikel deutlich, welcher am 9. Mai im Pan erschien und eine Reaktion darstellte auf ein Interview zwischen Pechstein und Picasso in der Nummer vom 25. April 1912:

[Die Kunstwelt] entsteht durch Vergeistigung des Erlebnisses, durch Konzentration der Einzelsensationen unter ein sie beherrschendes Gesetz und schließlich durch jenen inneren Elan, den uns keine Psychologie und keine Ästhetik erklären wird. Hier berühren sich Kunst und Metaphysik.40

Raphael insistiert an diesem Punkt darauf, daß es einer neuen Ästhetik bedürfe. Der Impressionismus wurde als Schwindel entlarvt. Die Aufgabe der jungen Generation bestehe darin, ihre eigene Welt sichtbar zu machen - aber es sollte beachtet werden, daß die Ästhetik in ihrer Erklärungskraft begrenzt war und daß die Kunst ihre eigene Metaphysik darstellte.

1912-1913: Von Monet zu Picasso

1912 unternahm Raphael seine zweite Reise nach Paris. Die Autobiographie führt lakonisch die wichtigsten Erfahrungen dieses Jahres auf:

Krach mit Berger wegen Pechstein. Entfremdung von P. Schwere seelisch-moralische Krisis. Reise nach Paris. 3 Monate Poussin. Chartres. Wieder in bayr Wald. Entschluß zum 2. MS Sonderbund in Köln. Flaubert.41

In Kürze laßt sich sagen daß die Studien über Poussin und Chartres wichtig für seine Arbeit an Von Monet zu Picasso waren, da er in der Lage war, sein Verständnis älterer Kunst mit dem der zeitgenössischen zu konfrontieren, und beispielsweise Cézanne hinsichtlich seines Verhältnisses zur Natur in den selben künstlerischen Rang wie Poussin einzuordnen. In der Kölner Sonderbund-Ausstellung vom 25. Mai bis 30. September war einer der Räume Picasso vorbehalten und enthielt 16 Werke der Periode 1901-05 und 1907-11. Im vorangegangenen Jahr hatte Vollard, aus Furcht vor einer Beeinträchtigung der Verkäufe, Raphael den Zugang zu den besseren Arbeiten Picassos verwehrt, und wir können uns vorstellen, wie wichtig diese Ausstellung für Raphaels endgültige Formulierung der in Picasso kulminierenden Geschichte der Moderne war - welche, nebenbei, das erste Buch war das den Namen ‘Picasso’ auf der Titelseite trug.

1913 hielt Raphael in München Vorträge über Picasso. Er überarbeitete die zweite Fassung von Von Monet zu Picasso und reiste nach Chantilly. Er schreibt weiter:

Elsas Unfruchtbarkeit erkannt. Die sterile Bohème. Helene Aaron die Schönheit der Zierlichkeit. Rückkehr nach Deutschland Ende 1913. Das 1. Buch wird veröffentlicht: ich fühle mich völlig allein. Obwohl Vortrag und Lena Marder.42

Er bemerkt hierzu:

Die erste praktische Verwirklichung des Ideals in einer wissenschaftlichen Darstellung der modernen Kunst, zugleich aber steigert sich das Gefühl für die Unfruchtbarkeit rings herum und für die triste Melancholie in mir selbst. Das Buch war eine Entleerung aber keine Selbstbefriedigung.43

Teil des Hintergrunds für das in Von Monet zu Picasso angegangene Problem ist die Frage, ob es eine Möglichkeit gäbe, die Gesetze des Bewußtseins zu bestimmen, ohne die Kantsche Ausschaltung der Erfahrung/Intuition durchzuführen. Mit Kants Verinnerlichung der Erfahrung im transzendentalen Subjekt tauchen zwei Gedankenstränge auf, die zu den Schwierigkeiten der Dritten Kritik betragen: das ist der Ausschluß des Ästhetischen in der Phänomenologie des Subjekts und die Lokalisierung der objektiven Sphäre des Begriffs innerhalb des ästhetischen Diskurses. Dieser führte zu der von Hegel aufgezeigten Konsequenz einer Spaltung zwischen dem egoistischen ästhetischen Vergnügen und seiner durch ein begriffliches Band zum Moralischen hergestellten Privilegierung im Bereich des Erhabenen. Raphael versucht, mittels seiner Analyse des schöpferischen Triebes, eine Lösung dieses Problems zu finden. Es ist wichtig, diese erste von ihm hier entwickelte Auffassung des schöpferischen Prozesses zu verstehen, da sie in Raphaels Entwicklung von entscheidender konzeptueller Bedeutung ist.

Das theoretische Objekt seiner Analyse ist der schöpferische Trieb und der Wunsch zu zeigen, daß dieser zu einer die Subjektivität ausschließenden Objektivierung fähig ist. Der schöpferische Trieb ist unendlich und insofern teleologisch, als er in seiner Tätigkeit seine Reinheit und Originalität bewahrt.

Der schöpferische Trieb ist unendlich, da er ohne Anfang ist und unerklärlich bleibt. Die aktive Kraft zu schaffen ist unermüdlich, und im schöpferischen Leben kehren die selben Themen wieder; das bedeutet, daß die Aufgabe des Künstlers eine unabschließbare ist. Kunst und Endlichkeit schließen sich gegenseitig aus. Die Kunst ist ein ständiger Prozeß des immer wieder von vorne Beginnens. Dies zeigt, daß sie nicht bloß Nachahmung der Natur oder eine Art der Stilisierung oder bewußten Rekonstruktion sein kann. In dem Drang nach seiner eigenen Autonomie (seine eigenen Leben, seinem Raum, seiner Zeit und Kausalität) zeigt sich, das der kreative Trieb in einer Welt liegt, die intendiert werden muß, bevor sie geschaffen wird.

Raphaels Strategie besteht darin, die Kantsche Problematik umzukehren und die Frage nach der Kunst von einer Auffassung ihres Werdens her zu stellen. An dem, seine eigenen Gesetzen folgenden Prozeß des Schöpferischen, sind Logik, Erkenntnistheorie und Sittlichkeit enthalten. Est ist ein und derselbe schöpferische Trieb, der alle Äußerungen von Geist und Leben hervorruft.

Im Anschluß daran analysiert Raphael den schöpferischen Trieb im Hinblick auf die Problematik von Subjekt, Objekt und ihrer Vermittlung. Die Welt ist uns nie an sich gegeben, sondern immer durch unsere Wahrnehmung von ihr bedingt, so daß all unser Wissen bereits eine Form der Schöpfung darstellt - was jede Nachahmungstheorie ausschließt, die sinnlos wäre, da sie nur die negative Vorstellung der Verdopplung enthält. Weder das Allgemeine noch das Individuelle können ausreichende Objekte für den Schöpferischen Trieb sein, sondern allein die Totalität, ein formales Konzept, das den Berührungspunkt der Bewußtseinsfunktionen mit dem Objekt bezeichnet.

Die Schaffung entgegengesetzter Bewegungen von Subjekt zu Objekt und vice versa enthält qualitative Pluralitäten im Sinne Bergsons, daß heißt: eine Einheit von nach Ausdruck strebenden Kräften. Die typische Funktion des unendlichen schöpferischen Triebs, die aller Individualisierung unterliegt, ermöglicht die Vorstellung von der ars una in artes... Daher die Unrichtigkeit des Verfahrens, verschiedenen Medien, wie Farbe, Linie und Licht, unterschiedliche Bereiche von Wert und Ausdruck zuzuschreiben. Kein Medium existiert a priori; es ist Teil des Handwerks des Künstlers, das Medium und seine Wirkungen zu kennen, aber sein Gebrauch ist weder naturalistische Beschreibung noch Formalismus, er hängt ab von der Schöpfung.

Aber es ergibt sich dann die Frage, worin das Moment der Transformation in die Seinsbedingungen des schöpferischen Triebs im allgemeinen und der bildenden Künste im besonderen besteht. Folgt man Wilhelm von Scholz (1874-1969), dann ist es die Setzung eines sich selbst setzenden Klonfliktes, der in den bildenden Künsten letztlich in Form der Schaffung eines Wesens das seine eigene Begründung enthält, ausgedrückt werden muß, und die Konkretisierung oder Bestimmung der Dreidimensionalität als des Ausdrucksbereichs der Malerei. Die Gestaltung von Raum in der Malerei kann nur erreicht werden, indem man die Zweidimensionalität der Oberfläche gegen die Dreidimensionalität des natürlichen Raums aufwiegt.

Physiologischer und geometrischer Ausdruck von Raum dürfen jedoch nicht verwechselt werden. Die Übersetzung der Dimension der Tiefe auf die plane Oberfläche wird durch die Ausgleich zwischen Raum und Oberfläche erreicht. Gegen Hildebrand, der die zentralen Elemente der Gestaltung von Form ausgearbeitet hatte, zeigt Raphael, daß es zahlreiche verschiedene Arten von Form gibt und daß Form aposteriorisch ist. Durch die Balance mit der Oberfläche wird der Raum zur Funktion, die selbstschaffend ist und ihr eigenes Leben aufweist. Der Prozeß der Formschaffung erschöpft sich jedoch nicht in der Verräumlichung. In jedem fortschreitenden Schritt der Schöpfung gehören Raum und Zeit zusammen; aber die einzige Ebene, die letztlich angestrebt werden kann, ist diejenige, in der jede der Einheiten unabhängig und frei von allen natürlichen Fesseln existiert. Es ist notwendig, eine Zeit zu suchen, die der künstlerischen Schaffung von Raum analog ist.

Der Sinn unserer ganzen Darstellung war die Verfolgung des Prozesses, der aus dem Material der Natur Kunst schafft. Er stellte sich uns dar als ein Zurückgehen von dem nur Gegebenen auf die Funktionen des Bewußtseins und die Gesetze der Objektwerdung; als ein Totalitätserlebnis der Welt; als eine Entmaterialisierung der Wirklichkeit zu einer anschaulichen und organischen Welt der Kunst - kurz als ein Prozeß, der von dem nur Individuellen, dem nur Gegebenen, in eine totale und gesollte Welt führte.44

Entgegen skeptischen und destruktiven Argumentationen betont Raphael, daß es möglich sei, ein Kunstwerk zu bewerten. Um ein Kunstwerk zu werten, muß man seine Stellung im Verhältnis zur absoluten Schöpfung und, innerhalb ihrer eigenen Ebene der Schöpfung, der Kunst als solcher einschätzen. Der auf der Schöpfung basierende Wertungsmaßstab ermöglicht auch ein Verständnis des instrumentellen Wertes der Kunst, ebenso wie ihrer Autonomie.

Der Künstler, jenes groteske Bündel von Kontrasten, ist das schöpferische Wesen, das uns aus der Verzweiflung des Skeptizismus und dem Quietismus der Religion treiben und folglich eine wahrhaft menschliche Existenz möglich machen kann.

Die zeitgenössische Reaktion auf das Buch war weitgehend positiv. Kahnweiler hielt es für das beste Buch, das über moderne Kunst erhältlich war.45 Richard Hamann, Professor in Marburg und Gründer des Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, fand das Buch unlesbar und kritisierte es scharf, was eine Replik von Raphael nach sich zog, die später in Form eines offenen Briefs veröffentlicht wurde. Moos berichtet von Karl Withs Kommentar in den Dioskuren von 1922:

Das Buch ist in einer selten klaren Diktion geschrieben und hat - als Versuch einer Grundlegung des Schöpferischen [...] große Bedeutung.46

Die unmittelbaren Rezensionen, wie die der Weserzeitung, bezeichneten das Buch als ‘unter den mancherlei bemerkenswerten Arbeiten, die sich mit den künstlerischen Erscheinungen beschäftigen, eine der ernstesten und gediegensten Arbeiten.’ Dieselbe Ansicht fand sich auch in der Rezension der Vossischen Zeitung und Paul Westheims (Gründer von Das Kunstblatt) Besprechung in seiner Neuen Züricher Zeitung. Das Mannheimer Tageblatt und Hermann Hesse äußerten sich ebenfalls beifällig.

1914-1920: zum Bodensee

Um zu seiner Autobiographie zurückzukehren, so kulminierte dieser vierte Abschnitt der ersten Epoche in einer tiefen Depression. Der Entschluß wurde im 1914 gefaßt, zum Bodensee zu fahren:

[...] und [ein] neues Leben zu beginnen. Auseinandersetzung mit der Natur (Geologie, Botanik, Biologie). Niederschrift der Komödie: Befreiung von der Vergangenheit. Konzeption der Trilogie: Voraussicht der eigenen Zukunft und Eindringen in die mittelalterliche Geschichte. Berta - das erste Bodenmädchen das mich liebt. Lilly. Elsa und später Anka: wie Gespenster der Vergangenheit.47

Dies war der fünfte Abschnitt der ‘Ansiedlung in der Natur und Geschichte’. 1915 stellte Anfang und Ende des 6. Abschnitts dar, einer Periode im Zeichen des ‘Neuen Objektes, Auseinandersetzung mit Krieg und Gesellschaft’:

Beschäftigung mit Geschichte und Literatur (Shakespeare). Niederschrift der Trilogie. [...] Heiratsvorslag an Anka. [...] Besuch der Schokoladenfabrik.48

Das siebten Stadium war ‘die Gestaltung dieses neuen Objektes’, die er in Form der Verfassung der Kriegstagebücher und des langen Dialogs Ethos durchführte. Von 1918-20 spricht Raphael als ‘der Auflösung der ganzen Epoche, und aller Metaphysik’. Er sah die Unzulänglichkeit seiner Schaffenstheorie ein, und seine Beziehungen zu mehreren Frauen (es werden sieben erwähnt) führten ihn in eine tiefe Krise.

Seine zahlreichen Einschätzungen dieser Epoche können nun verknüpft werden:

In der 1. Epoche (1902-20) suchte ich mich von einer Idee der Vollkommenheit her in der Wirklichkeit (Kunst, Philosophie, Liebe, Natur, Gesellschaft) anzusiedeln, bis sich die Idee auflöste und diese Methode selbst ungangbar würde (die größten Annäherung in Schillers ästhetischen Briefen).
Die bestehende Welt als solche würde abgebaut und dann (durch eine Schaffenstheorie) wieder aufgebaut; aber am Ende entschwand jede Metaphysik und es blieb die Mannigfaltigkeit der wechselnden Erscheinungen. Es erfolgte der Umschlag, die Verschiebung (nicht als freigewählt, sondern als Eingriff des Lebens, der biologische Entwicklung) von dem Körper (Leidenschaft) und der Vernunft (Idee) auf Sinnlichkeit und Verstand.49

Die Zeit der Leidenschaften und Wahlverwandtschaften, aus denen man das Wirkliche entweder zum Ideal der Vollkommenheit erhöhte, sich das Fremde langsam assimilierte oder da auflöst und in ein elementares Chaos verwandelt, was zu stark, zu machtvoll ist, als daß die sich bildende Individualität, das sein Maß suchende Selbstbewusstsein mit dem Chaos fertig werden könnte (illusions und illusions perdues). Idealisiert wurden: die Frau (Anka – Noa-Noa), die Landschaft (Bodensee), die Kunst (Poussin). Praktisch und theoretisch verdammt: Familie, Gesellschaft, Staat, Geist wider Macht. Die sittlichen Grundlagen des Völkerrechts. [...] Ich hatte begriffen, daß der ganzen Theorie eine Metaphysik zugrunde lag, die gegenstandslos war, weil die Theorie die Praxis nur verurteilen, aber nie formen konnte; und etwas Ungeformtes und Unformbares anzuerkennen, dazu war ich offenbar zu […] stolz.50

Bezüglich seiner Schlußfolgerung über die sozialen Beziehungen dieser Periode haben wir eine sehr wichtige Aussage, die für ein späteres Verständnis seiner Beziehung zum Marxismus - besser gesagt: zur kommunistischen Politik - von Bedeutung ist:

Dreimal treten die Sozialbeziehungen in den Vordergrund: 1905/6, 1914/18, 1925/32, 1940/. [...]

  • 1.) 1905/06 dauerte nur kurz, war ein Kontakt ausschließlich mit Arbeitern und zu einem begrenzten […] (Streik). In Verbindung damit der Verkehr mit Emigranten der Russische Revolution und die erste flüchtige Bekanntschaft mit den Schriften von Marx, der Lektüre des Vorwärts. Es war eine kurze, aber sehr intensive, praktische Erfahrung, die aber völlig leer und ohne Konsequenzen ablief.
  • 2.) 1914/18. Zuerst lernte ich das bäuerliche Leben, das Dorf und seinen Rhythmus kennen, dann das Militär mit z.g.T. Kleinbürgern. Es folgte (gleichzeitig) die Lektüre und das Nachdenken über das Wesen der Gesellschaft, des Krieges, die internationalen Beziehungen. Das erste Ergebnis war die Trennung von Marx und Geist. Das zweite war die Anwendung des (erkenntnistheoretische d.h. moralischen) Ideals auf Recht und Staat (die moralischen Grundlagen des Völkerrechts) und die Aufzweigung des Abstandes zwischen beiden.51

Alle theoretischen Hilfsmittel waren bürgerlich-sozial. Art (Simmel, Oppenheimer etc.) Die Auseinandersetzung selbst war ungeheuer aufreibend – eine starke Spannung zwischen meiner l´art pour l´art Stellung und meiner Skepsis gegen den kapitalist. Krieg einerseits und dem Druck des Militärs, der Aufhebung der persönlichen […] anderseits. Der Gedanke einer Revolution war seit 1916 durchaus da, aber in einer abstrakten Form. In dieser ganzen Auseinandersetzung […] blieb aber praktisch und theoretisch ohne Konsequenz.52

Auf den gesamten Verlauf seiner Sozialbeziehungen zurückblickend bemerkt er:

Klar folgt aus dem Vorhergehenden nur soviel: * a) daß ich einen eingeborenen Drang und Trieb zur Politik habe [...] * c) daß ich mich nie an eine Partei binden könnte [...]53

1920, im Alter von 31 Jahren, an dem Punkt, an welchem er sich der Unzulänglichkeit seines Ansatzes bewußt wurde, sich dem Studium Husserls zuwandte und Idee und Gestalt zu schreiben begann, scheint Raphael ein tiefe geistige Krise durchgemacht zu haben - zusammengesetzt aus seinen Kriegserfahrungen, seinem Leben in Flucht, seinen Beziehungen zu Frauen, besonders Noa-Noa, und jener gefährlichen Tendenz, sich selbst zu unterschätzen, die er bei Cézanne festgestellt hatte.

Raphael würde seinem Leben genau 31 Jahre später ein Ende setzen, in Umständen der Flucht und des Exils und der tiefen Komplexität über die Bedeutung des gesamten philosophischen und erkenntnistheoretischen Projekts, das er sich gesetzt hatte, seit er als junger Mann durch die bayrischen Wälder gewandert war und über seine intensive Reaktion gegenüber der Natur die Forderungen des Denkens entdeckt hatte.


  1. Max Raphael, Autobiographie, Folio 1, sehe: Autobiographie. Im folgenden zitiert als: Autobiographie

  2. Idem. 

  3. Idem. 

  4. Autobiographie, Folio 2. 

  5. Autobiographie, Folio 1. 

  6. Autobiographie, Folio 4. 

  7. Autobiographie, Folio 16. 

  8. Bei Anka könnte es sich um Anka Lesser handeln, der sein Aufsatz über Pechstein von 1918 gewidmet ist. 

  9. Autobiographie, Folio 3. 

  10. Autobiographie, Folio 4. 

  11. Autobiographie, Folio unbekannt. 

  12. Sehe: Max Raphael-Schönlanke (1910) "Die amerikanische Ausstellung," in: März, IV:12, S. 497-500. Sehe: Bibliographie

  13. Autobiographie, Folio unbekannt. 

  14. Max Raphael (1993) ‘Der Sonderbund in Düsseldorf’, in: idem, Das Schöpferische Auge, (Wien: Gesellschaft für Kunst und Volksbildung), S. 31. Sehe: Bibliographie. Im folgenden zitiert als: Das Schöpferische Auge

  15. ‘Der Sonderbund in Düsseldorf’, in: Das Schöpferische Auge, S. 31-32. 

  16. ‘Der Sonderbund in Düsseldorf’, in: Das Schöpferische Auge, S. 32. 

  17. 'Der Sonderbund in Düsseldorf’, in: Das Schöpferische Auge, S. 35. Hervorhebung hinzugefügt. 

  18. Karl Scheffler (1910) Berlin - Ein Stadtschicksal (Berlin: Erich Reiss Verlag). 

  19. 'Die Weltstadt Berlin’, in: Das Schöpferische Auge, S. 40-41. 

  20. François Léger (1989) La pensée de Georg Simmel. Contribution à l’histoire des idées en Allemange au début du XXe siecle (Paris: Ed. Kimé). 

  21. Albert Mamelet, Le Relativisme Philosophique chez Georg Simmel, Paris, Librairie Félix Alcan, 1914. Sehe: archive.org

  22. Albert Mamelet (1914) Le Relativisme Philosophique chez Georg Simmel (Paris: Librairie Félix Alcan). Sehe: archive.org

  23. Georg Simmel (1910) Hauptprobleme der Philosophie (Leipzig: Göschen). 

  24. 'Weiß und Schwarz’, in: Das Schöpferische Auge, S. 50. 

  25. Idem. 

  26. Peter Paret (1980) The Berlin Secession. Modernism and its enemies in Imperial Germany (Cambridge: Harvard University Press). 

  27. Baudelaire, zitiert in ‘Die Neue Sezession’, in: Das Schöpferische Auge, S. 59. 

  28. ‘Der Expressionismus‘, in: Das Schöpferische Auge, S. 76-77. 

  29. Adolf von Hildebrand (1893) Das Problem der Form in der bildenden Kunst (Strassburg: Heitz). 

  30. 'Der Expressionismus‘ in: Das Schöpferische Auge, S. 78. 

  31. Idem, S. 79. 

  32. 'Curt Herrmann: _Der Kampf um den Stil_’ in: Das Schöpferische Auge, S. 55. 

  33. Vgl. Fritz Schlawe (1961) Literarische Zeitschriften (Stuttgart: J.B. Metzler); Harry Pross (1963) Literatur und Politik (Olten und Freiburg: Walter-Verlag). 

  34. 'Malerei und Persönlichkeit’, Das schöpferische Auge, S. 88. 

  35. Idem. 

  36. Idem, S. 90-91. 

  37. Idem, S. 93. 

  38. Idem, S. 93. 

  39. Idem. 

  40. ‘Lieber Herr Pechstein!’ in: Das schöpferische Auge, S. 112. 

  41. Autobiographie, Folio unbekannt. 

  42. Autobiographie, Folio unbekannt. 

  43. Autobiographie, Folio unbekannt. 

  44. Max Raphael (1913) Von Monet zu Picasso. Grundzüge einer Ästhetik und Entwicklung der modernen Malerei (Munich: Delphin-Verlag) S. 43. 

  45. Pierre Assouline (1989) L'Homme de l'art: D.-H. Kahnweiler, 1884-1979 Paris: Gallimard. 

  46. Paul Moos (1931) Die deutsche Ästhetik der Gegenwart (Berlin: Hesse Verlag). 

  47. Autobiographie, Folio 8 Recto. 

  48. Autobiographie, Folio 8 Recto. 

  49. Autobiographie, Folio 12. 

  50. Autobiographie, Folio 10. 

  51. Autobiographie, Folio 18. 

  52. Autobiographie, Folio 19. 

  53. Autobiographie, Folio 19.